Die kalte Logik der KI: Warum 2025 zum Wendepunkt für den Arbeitsmarkt wird

Der Arbeitsmarkt im Jahr 2025 bebt. Die Zahlen, die uns bereits aus den USA und zunehmend auch aus Europa erreichen, sind mehr als nur ein konjunkturelles Alarmsignal – sie sind die Vorboten einer tektonischen Verschiebung. Mit über 890.000 abgebauten Stellen allein in den USA bis zum dritten Quartal 2025 und einer geschätzten globalen Zahl von über 1,5 Millionen erleben wir nicht einfach nur eine Entlassungswelle. Wir sind Zeugen einer fundamentalen, durch Technologie getriebenen Restrukturierung unserer Arbeitswelt.

Ich beobachte diese Entwicklung seit einiger Zeit mit einer Mischung aus analytischer Faszination und etwas Besorgnis. Die normalen Erklärungen für diesen Job-Shift – Rezessionsängste, Inflation, Kostendruck – greifen zu kurz. Sie sind eventuell nur die Symptome einer noch nicht hier in Europa gänzlich rezipierten Ursache: Der Treiber dieser Job-Transformation ist die rasante Implementierung von Künstlicher Intelligenz (KI) in die damit verbundene radikale Änderung vieler Kernprozesse in Unternehmen. Hier will ich kurz die aktuelle Entlassungswelle aus einer BWL-Perspektive einordnen, die tieferliegenden Mechanismen aufzeigen und eine Einschätzung abgeben, was dies für Unternehmen, Personalabteilungen und Arbeitnehmer:innen bedeutet.

Die Anatomie der Entlassungswelle: KI-gesteuerte Verschlankung

Die aktuellen Schlagzeilen zu Entlassungen aufgrund von KI zeigen ein klares Muster, das sich wie ein roter Faden durch alle Sektoren zieht. Es beginnt bei den Tech-Giganten wie Amazon und Microsoft, die als Pioniere der Digitalisierung nun auch die Vorreiter der KI-gesteuerten Verschlankung sind. Ironischerweise bauen sie genau dort massiv Personal ab, wo sie kürzlich erst Wachstum definierten. Wer nun dies als Schwäche interpretieren möchte, liegt falsch. Es ist ein strategischer Pivot: weg von menschlicher Skalierung, hin zu automatisierter Skalierung.

Dieses Prinzip sickert unaufhaltsam in andere Bereiche durch und erodiert selbst die Bastionen der "White-Collar"-Routinen. Der Fall Salesforce mit seinem KI-Tool "Agentforce" ist symptomatisch für Tausende von Unternehmen: Administrative, koordinative und support-orientierte Tätigkeiten werden als Erstes automatisiert.

Selbst der öffentliche Sektor, lange ein Hort der Stabilität, ist nicht mehr immun: Die Beschäftigung beim US-Bund sank im August um 15.000 und liegt seit Jahresbeginn um insgesamt 97.000 Stellen niedriger – parallel zur fortschreitenden Digitalisierung von Verwaltungsleistungen. Digitale Bürgerdienste und KI-gestützte Verwaltung machen Tausende Planstellen obsolet. Schließlich stehen traditionelle Industrien wie Energie und Einzelhandel unter einem doppelten Druck aus strukturellem Wandel und dem unerbittlichen Effizienzdruck der Automatisierung. Wir erleben also eine branchenübergreifende Konsolidierung von Aufgaben, bei der standardisierte Prozesse, Datenverwaltung und menschliche Schnittstellenfunktionen systematisch ersetzt werden.

Die BWL-Perspektive: Die kalte Logik hinter den Entlassungen

Aus betriebswirtschaftlicher Sicht ist diese Entwicklung eine logische, fast unausweichliche Konsequenz aus klassischen Theorien, die durch KI nun in einer nie dagewesenen Geschwindigkeit Realität werden. Der wahre Treiber ist nicht die Technologie selbst, sondern die brutale Effizienz, die sie freisetzt.

Use Case 1: Die Zerschlagung der Transaktionskosten im Management

Die Transaktionskostentheorie lehrt uns, dass ein Großteil der internen Kosten eines Unternehmens durch Koordination und Kontrolle entsteht. Agentische KI greift genau hier an, indem sie Reporting-, Planungs- und Monitoring-Aufgaben zunehmend in Software verlagert. Gartner prognostiziert, dass bis 2026 rund 40 % der Enterprise-Apps integrierte, auf Aufgaben spezialisierte KI-Agenten enthalten werden (von <5 % in 2025) – ein Durchbruch, der Koordinationsarbeit strukturell in digitale Workflows verschiebt.

Rechnen wir das an einem konkreten Beispiel durch: Eine Abteilung mit 20 Mitarbeitenden wird von drei Teamleitungen (mittleres Management) geführt. Ihre Hauptaufgabe: Koordination, Kontrolle und das Erstellen von Berichten für die obere Führungsebene. Die Personalkosten für diese drei Manager:innen belaufen sich inklusive Sozialabgaben auf rund 255.000 € pro Jahr (Annahme: 85.000 € pro Manager). Das Unternehmen führt nun eine KI-Plattform für 20.000 € jährlich ein, die 80% dieser Koordinations- und Reportingaufgaben automatisiert. Plötzlich werden zwei der drei Managerpositionen strukturell überflüssig.

  • Einsparung: 2 x 85.000 € = 170.000 €

  • Investition: 20.000 € für die KI-Lizenz

  • Nettoeffekt: Eine jährliche Einsparung von 150.000 € in nur einer Abteilung – bei gleichzeitig schnellerem und fehlerfreiem Informationsfluss. Der Bedarf an mittlerem Management sinkt hier nicht graduell, er kollabiert.

Use Case 2: Schöpferische Zerstörung als Asymmetrie-Falle

Noch dramatischer wird dieser Wandel, wenn wir ihn durch die Brille von Joseph Schumpeters „schöpferischer Zerstörung“ betrachten. Die KI ist hierbei eine Basisinnovation, die ganze Wertschöpfungsketten neu definiert. Betrachten wir den Kundenservice eines mittelständischen Energieversorgers mit 50 Agenten im First-Level-Support (durchschnittliche Kosten pro Agent: 45.000 €/Jahr). Ein fortschrittlicher Voice- und Chatbot wird implementiert, der 85% der Standardanfragen (Zählerstand, Abschlagsänderung, Rechnungsfragen) autonom bearbeitet. Um die Effizienz zu heben, werden 40 der 50 Stellen abgebaut. Das entspricht einer jährlichen Kostensenkung von 1.800.000 €. Gleichzeitig müssen neue, hoch spezialisierte Rollen geschaffen werden: Zwei "KI-Conversation-Designer" (je 70.000 €) und ein "AI-Operations-Lead" (90.000 €) werden eingestellt. Fünf der besten bisherigen Agenten werden zu höher bezahlten Spezialist:innen für komplexe Eskalationsfälle weiterqualifiziert (je 55.000 €). Die Gesamtkosten für diese neuen und aufgewerteten Rollen betragen 505.000 €.

Hier zeigt sich die kritische Asymmetrie, die das Problem so gewaltig macht: Gegenüber 40 wegfallenden Stellen stehen nur 8 x neue oder höherqualifizierte. Die Organisation spart nach Abzug der neuen Personalkosten und der Technologie-Investition (ca. 150.000 €) über eine Million Euro pro Jahr, doch der Arbeitsmarkt verliert auf einen Schlag 32 Arbeitsplätze. Die Produktivität steigt, die Lohnsumme sinkt, und die Anforderungsprofile klaffen dramatisch auseinander.

Absolut. Hier ist der dritte Abschnitt, konsequent im Stil der "kalten Logik" und mit Fokus auf die Zahlen, die die strategische Notwendigkeit für HR entlarven.

Die HR-Perspektive: Vom Kostenfaktor zur Wertschöpfungs-Architektur

Angesichts der gnadenlosen Effizienz der KI-Implementierung steht das Personalmanagement an einem Scheideweg: Wird es zum reinen Abwicklungs-Center für den Personalabbau oder zum Architekten der internen Wertschöpfung? Eine rein reaktive Rolle, die sich auf Sozialpläne und Kündigungsgespräche konzentriert, ist nicht nur strategisch bedeutungslos – sie ist betriebswirtschaftlich unsinnig.

Entlarven wir die Zahlen hinter der klassischen "Fire-and-Hire"-Strategie im Kontext unseres Use Cases aus dem Kundenservice:

40 Mitarbeiter werden entlassen. Selbst bei einer konservativen Schätzung (unter Berücksichtigung von Abfindungen, Freistellungen und Rechtskosten) entstehen pro Mitarbeiter durchschnittliche Trennungskosten von ca. 10.000 €. Das sind 400.000 €, die sofort als "Dead Weight Loss" in den Büchern stehen. Gleichzeitig werden 8 neue Spezialist:innen extern gesucht. Laut Studien (z.B. von der Society for Human Resource Management - SHRM) belaufen sich die Rekrutierungskosten (Anzeigen, Headhunter, Onboarding) für qualifizierte Fachkräfte auf das 0,5- bis 2-fache eines Jahresgehalts. Nehmen wir einen Mittelwert von 75% an, ergeben sich bei einem Durchschnittsgehalt von 65.000 € für die neuen Rollen Rekrutierungskosten von rund 48.750 € pro Kopf. Das sind weitere 390.000 € für die Neubesetzung. Die Gesamtkosten für den Personalwechsel belaufen sich somit auf 790.000 € – eine Summe, die die Effizienzgewinne des ersten Jahres fast vollständig auffrisst. Hier entpuppt sich HR als reiner Kostenfaktor.

Die kalte Logik des Reskilling: Eine ROI-Betrachtung

Der unternehmerische Imperativ des Reskilling ist daher keine wohlmeinende Floskel, sondern eine kalkulatorische Notwendigkeit. Bleiben wir beim Beispiel: Was wäre, wenn HR die 8 besten der 40 zu entlassenden Mitarbeiter identifiziert und in einem 6-monatigen Intensivprogramm (Kosten: 25.000 € pro Kopf) zu den neuen Spezialisten weiterbildet?

  • Investition in Reskilling: 8 Mitarbeiter x 25.000 € = 200.000 €. Während dieser Zeit erhalten sie weiterhin ihr altes Gehalt (anteilig ca. 180.000 €). Die Gesamtinvestition beträgt also 380.000 €.

  • Vermeidbare Kosten: Dem gegenüber stehen die vermiedenen Kosten für Entlassung und Rekrutierung in Höhe von 790.000 €.

  • Netto-Effekt & ROI: Die Netto-Ersparnis beträgt 410.000 € allein im ersten Jahr. Der Return on Investment (ROI) der Reskilling-Maßnahme liegt bei über 100%.

Die Aufgabe von HR ist es folglich, diese Asymmetrie-Falle proaktiv zu managen. Anstatt auf dem externen Markt teuer nach Kompetenzen zu suchen, die intern potenziell vorhanden sind, muss HR zu einem internen Kapital-Allokator werden. Dies erfordert eine radikale Abkehr von starren Jobbeschreibungen hin zu dynamischen Kompetenzprofilen und die Implementierung von agilen Lernökosystemen. Jeder Mitarbeiter, der nicht intern transformiert werden kann, ist ein potenzieller Verlust von Erfahrungskapital und eine zukünftige Belastung durch Rekrutierungskosten. Die moderne HR-Abteilung rechtfertigt ihre Existenz nicht mehr durch die Verwaltung von Personal, sondern durch den nachweisbaren Beitrag zur Wertschöpfung durch intelligente Neuausrichtung des Humankapitals.

Schlussfolgerung: Die Effizienz-Dividende und die gesellschaftliche Frage

Die betriebswirtschaftliche Logik ist eindeutig: Für das einzelne Unternehmen ist die Investition in Reskilling nicht nur eine soziale Geste, sondern – wie Zahlen nahelegen – eine überlegene Strategie der Kapitalallokation. Makroseitig zeigt sich der Druck deutlich: Im August 2025 entstanden in den USA nur 22.000 neue Stellen, die Arbeitslosenquote stieg auf 4,3 % (höchster Stand seit 2021).

Die betriebswirtschaftliche Logik ist eindeutig: Für das einzelne Unternehmen ist die Investition in Reskilling nicht nur eine soziale Geste, sondern, wie die Zahlen belegen, eine überlegene Strategie zur Kapitalallokation. Der ROI ist unmittelbar und messbar. Doch zoomen wir aus der Mikro-Perspektive heraus und betrachten das makroökonomische Gesamtbild. Unsere Use Cases zeigen, dass durch KI ein gewaltiger Wert geschaffen wird – eine Effizienz-Dividende in Milliardenhöhe, die aus gesteigerter Produktivität bei gleichzeitig sinkender Lohnsumme entsteht. Die kalte Logik führt uns damit zu einer unausweichlichen und zutiefst politischen Frage: Wem gehört diese Dividende?

Im aktuellen Paradigma fließt sie fast ausschließlich den Kapitaleignern in Form von höheren Unternehmensgewinnen zu. Die Kosten der Transformation – die Umschulung, die soziale Absicherung der "Displaced", die gesellschaftliche Unruhe – werden hingegen sozialisiert und vom Staat und den Individuen getragen. Wir erleben die Privatisierung der KI-Gewinne bei gleichzeitiger Sozialisierung der Transformationskosten.

Dies ist die eigentliche Debatte, die wir führen müssen, und sie geht weit über die Personalabteilungen hinaus. Brauchen wir neue Modelle, um diese Effizienz-Dividende zu verteilen? Denkbar wären eine Automations-Steuer, die gezielt in Weiterbildungsfonds fließt, ein gesetzliches Recht auf lebenslanges Lernen oder gar eine völlige Neudefinition von Arbeit und Grundeinkommen. Die betriebswirtschaftliche Analyse ist nur der erste Schritt. Die gesellschaftliche Antwort auf die Verteilungsfrage, die uns die KI stellt, steht noch aus – und sie wird die Weichen für die Stabilität und den Wohlstand unserer Zukunft stellen.

Prof. Dr. Kai Reinhardt

Prof. Dr. Kai Reinhardt ist Professor für Organisation und Personalentwicklung an der HTW Berlin und Gründer von KYBERNET. Er forscht und berät seit über 20 Jahren zu Kompetenzmanagement, digitaler Transformation und der Gestaltung adaptiver Organisationen.

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