Vom Worker zum Actor: Warum wir Kompetenzmanagement radikal neu denken müssen
Wir messen das Falsche. Während KI-Systeme exponentiell skalieren, verharrt das betriebliche Kompetenzmanagement in linearen Methoden der 90er Jahre. Dieser Beitrag liefert eine wissenschaftliche „Abrechnung“ mit der alten Logik der Industriearchäologie im Kontext klassischer Job-Analysen – und einen Bauplan für den radikalen Shift von Kompetenzmodellen für ausführende „Worker“ hin zu denen für gestaltende „Actors“.
Drei Jahre nach dem Start von ChatGPT versuchen Unternehmen immer noch, die radikalste Veränderung der Arbeitswelt mit dem Instrumentenkoffer der 1990er Jahre zu vermessen. Wenn HR-Abteilungen aber weiterhin veraltete Analyse-Methoden nutzen, bauen sie Kompetenzmodelle, die bereits obsolet sind, bevor die Tinte trocken ist. Sie investieren Millionen in das Training von Fähigkeiten, die die KI längst übernommen hat. Das große Bild: Wir erleben eine gefährliche Entkopplung der Geschwindigkeiten.Die Technologie entwickelt sich exponentiell (von GenAI zu autonomen Agenten). Das HR-Management verbleibt in linearer Logik.
Methoden-Mismatch: Mit der Linearität der 90er gegen die Exponentialität der KI
In der Forschung an der Schnittstelle von Arbeitswissenschaft und strategischem Kompetenzmanagement zeigt sich diese gefährliche Entkopplung seit Jahren. Doch spätestens seit Unternehmen versuchen, KI-Kompetenzen operationalisierbar zu machen, wird das Missverhältnis zwischen der Methodik der Vergangenheit und den Herausforderungen der 2020er Jahre grotesk sichtbar.
Der Kern des Problems ist die Geschwindigkeit: Während Technologie-Anwendungen exponentiell skalieren – von generativer KI über Quantum-Computing bis hin zu autonomen Agenten – verharren klassische Jobanalyse-Methoden in einer linearen Logik. Viele Personalabteilungen versuchen immer noch, die fluide Realität von Human-AI-Teams zu “kontrollieren” und Kompetenzen, Skills und Talente in isolierte Schubladen zu sortieren. Dieses Vorgehen – einst der unbestrittene "Goldstandard" im Kompetenzmanagement – wird in der Ära der KI zur Falle für die strategische Zukunftsfähigkeit. Der Status quo wird verwaltet, während die Technologie die Realität der Arbeit längst neu definiert hat.
Linear vs. exponentiell: Wie veraltete HR-Werkzeuge der 90er Jahre an der KI-Realität scheitern.
Das Dilemma der Geschwindigkeiten
Lassen Sie uns dieses abstrakte Problem in die Realität eines Unternehmens holen. Stellen Sie sich die Rolle eines "Marketing Managers" vor.
Der Blick in die Praxis: Vor fünf Jahren war diese Rolle ein stabiler Container definierter Fähigkeiten. Der Mitarbeiter brauchte "solide Kenntnisse in SEO", "Erfahrung im manuellen Texten" und "sicherer Umgang mit Excel-Pivot-Tabellen". Diese Items landeten im unternehmensweiten Kompetenzmodell, und einmal im Jahr wurde abgehakt: Kann er das noch? Ja. Ziel erreicht. Das System war stabil, planbar und trügerisch sicher.
Heute nutzt derselbe Marketing Manager morgens ChatGPT, um zehn Varianten einer Kampagne zu entwerfen, mittags Midjourney für die Visualisierung und nachmittags einen KI-Agenten, der die SEO-Analyse vollautomatisch durchführt. Das alte HR-Modell fragt stur: "Kann er die Pivot-Tabelle manuell erstellen?" Die Antwort lautet vielleicht: "Nein, das macht jetzt die KI für ihn." Nach der Logik der klassischen Job Analysis müssten wir diesem Mitarbeiter nun eine Kompetenzlücke attestieren. Das Modell würde ihn abwerten. In Wahrheit ist seine Produktivität jedoch explodiert, weil er nicht mehr ausführt, sondern orchestriert. Er steuert Agenten, bewertet Ergebnisse und kuratiert den Output.
Die KSAO-Falle
Wissenschaftstheoretisch tappen wir hier in die Falle klassischer KSAO-Modelle (Knowledge, Skills, Abilities, other characteristics). Diese basieren auf einem behavioristischen Weltbild, wie es auch in traditionellen Job-Analysen verankert ist: Kompetenz wird hier gleichgesetzt mit der sichtbaren, manuellen Ausführung diskreter Prozessschritte und prozeduralem Wissen. Die implizite Logik des Taylorismus lautet: „Wer den Prozessschritt (z.B. Rechnen) nicht selbst manuell ausführt, besitzt die Kompetenz nicht.“ Diese Gleichung, die in der physischen Fertigung korrekt war, ist in der KI-augmentierten Wissensarbeit zerbrochen. Wir messen die Exekutive (das Machen), ignorieren aber die Orchestrierung (das Managen des Ergebnisses).
Wissenschaftlich betrachtet haben wir es hier mit einem massiven Validitätsproblem zu tun. Das alte Instrument misst das Falsche. Es ist, als würden wir die Leistungsfähigkeit eines modernen E-Bikes mit den Kriterien einer Pferdekutsche bewerten. Forschungsergebnisse bestätigen, dass KI-Systeme menschliche Fähigkeiten in Bereichen wie Arithmetik oder Mustererkennung nicht nur ergänzen, sondern oft vollständig übertreffen. Wenn wir weiterhin die manuelle Ausführung dieser Aufgaben als Messgröße für Kompetenz heranziehen, messen wir eine Fähigkeit, die ökonomisch wertlos geworden ist. Wir ignorieren dabei den eigentlichen Wertbeitrag: die Entscheidungsfindung und das Management der KI.
Dieses Vorgehen – einst der "Goldstandard" stabilen Managements – wird nun zur strategischen Falle. Warum? Weil eine statische Excel-Liste suggeriert, dass Arbeit aus stabilen, voneinander abgrenzbaren Tätigkeiten besteht, die man konservieren kann. In einer Welt, in der KI-Agenten über Nacht ganze Aufgabenbereiche übernehmen oder transformieren, ist diese Annahme eine Illusion.
Die Theorie als Rettungsanker: Cognitive Work Analysis
Wie lösen wir dieses Dilemma? Wenn wir nicht mehr in den Rückspiegel schauen dürfen (Induktion), müssen wir die Blickrichtung radikal ändern. Die Antwort liegt in einem methodischen Wechsel zur Deduktion. Wir dürfen nicht fragen, was ist (die heutige Aufgabe), sondern wir müssen fragen, was sein muss, um das gewünschte strategische Ergebnis in einem System aus Mensch und Maschine zu erreichen. In meiner Arbeit und Forschung setze ich hierfür auf die Cognitive Work Analysis (CWA). Ursprünglich entwickelt, um Hochrisiko-Umgebungen wie Kernkraftwerke oder komplexe Luftfahrtsysteme zu analysieren, ist sie das ideale Werkzeug für das digitale Zeitalter.
Der entscheidende Unterschied zur klassischen Job Analysis ist der Fokus. Die CWA interessiert sich nicht für den Standardprozess – denn Routinen und vorhersehbare Abläufe sind genau das, was die KI übernimmt. Die CWA interessiert sich für die Constraints (Grenzen) des Systems und die "Edge Cases". Sie fragt: Welche kognitiven Fähigkeiten benötigt ein Mensch, um in unvorhersehbaren Ausnahmesituationen, für die die KI keine Trainingsdaten hat, die Kontrolle zu behalten?
Die SRK-Taxonomie – Eine Blaupause für das Überleben neben der KI
Um zu entscheiden, welche Kompetenzen wir künftig noch trainieren müssen, nutzen wir in der CWA die sogenannte SRK-Taxonomie von Jens Rasmussen. Das klingt akademisch, ist aber eigentlich eine sehr simple und mächtige Schablone. Stellen Sie sich menschliche Arbeit wie eine dreistöckige Pyramide vor:
Die SRK-Taxonomie als strategischer Kompass: Wo KI dominiert und wo menschliche Kompetenz unverzichtbar bleibt.
Die Basis: Skill-Based (Der Autopilot) Das sind hochautomatisierte Routinen, die wir ohne nachzudenken abspulen, wie das Tippen auf der Tastatur, das Schalten im Auto oder die Dateneingabe in eine Maske. Hier ist die Maschine längst überlegen. Sie tippt schneller, fährt präziser und wird nicht müde.
Die Mitte: Rule-Based (Die Checkliste) Hier handeln wir nach gelernten "Wenn-Dann"-Regeln in vertrauten Situationen. Ein Buchhalter, der eine Rechnung nach Standardkontenrahmen verbucht, oder ein IT-Supporter, der ein Passwort nach Vorschrift zurücksetzt. Das ist das Heimspiel der Algorithmen. Jede Regel, die man aufschreiben kann, kann eine KI (oder RPA) heute fehlerfreier exekutieren als jeder Mensch.
Die Spitze: Knowledge-Based (Der Pionier) Das ist der Modus für völlig neue, unbekannte Situationen, in denen es keine Checklisten gibt. Hier müssen wir analytisch denken, improvisieren und diagnostizieren. Ein Krisenmanager, der in einer Pandemie entscheidet, oder ein Stratege, der einen völlig neuen Markt erschließt. Hier ist die KI schwach. Sie kann keine wirklich neuen Lösungen generieren, da sie auf Daten der Vergangenheit trainiert ist. Dies bleibt die menschliche Domäne.
Die bittere Wahrheit für HR ist, dass sich KI-Systeme und Automatisierung rasend schnell von unten nach oben durch diese Pyramide fressen.
Paradigmenwechsel im Kompetenzmanagement: Warum HR den Fokus von stabilen Prozessen auf unvorhersehbare Systemgrenzen verlagern muss.
Sie haben die Skill-Ebene erobert und dominieren zunehmend die Rule-Ebene (z.B. Mustererkennung, Arithmetik). Ein Kompetenzmodell, das im Jahr 2025 noch den Fokus auf manuelle Fertigkeiten oder das Abarbeiten von Regeln legt, trainiert den Menschen für einen Wettbewerb, den er gegen die Maschine längst verloren hat. Wir müssen unsere Mitarbeiter gezielt für die Spitze der Pyramide qualifizieren – für die Momente, in denen die Regel versagt.
Praxis-Transfer: Vom "Abarbeiter" zum "System-Architekten
Wenn Sie einen Blick auf die folgende Übersicht werfen, sehen Sie die Essenz dessen, was ich in meiner Forschung und Beratung aktuell beobachte. Wir befinden uns in einem radikalen Umbruch, der weit über die Einführung neuer Software hinausgeht. Links sehen wir die Welt, aus der wir kommen: Das Modell des "Workers". Hier war Arbeit deterministisch. Es gab eine Liste, einen Prozess, und die Kompetenz bestand darin, diesen Prozess fehlerfrei und effizient abzuarbeiten. Das war die Ära der Exekutive. Doch durch den Einsatz von KI und Algorithmen verschiebt sich dieses Gefüge massiv nach rechts. Wir treten ein in die Ära des "Actors". Der Mitarbeiter ist kein reiner Ausführer mehr, sondern ein Akteur und Gestalter in einem dynamischen Team mit der Maschine.
KI-Kompetenzmodell 2025: Vom Worker zum Actor als radikaler Rollenwandel: Mitarbeiter werden von Ausführenden zu Orchestratoren im Human-AI-Team
Was bedeutet das konkret für Ihr Kompetenzmodell 2025? Wie die Grafik unten zeigt, müssen wir drei Dimensionen völlig neu bewerten, die in klassischen Stellenbeschreibungen oft fehlen oder falsch verstanden werden:
1. Trust Calibration – Die Kompetenz der gesunden Skepsis Lassen Sie uns ehrlich sein: In der alten Welt war "Vertrauen" ein weicher Faktor für das Betriebsklima. Im Human-AI Teaming wird es zur harten, operativen Währung. Es geht dabei nicht um blindes Vertrauen in die Technik, sondern um kalibriertes Vertrauen. Wenn ein KI-Agent mir eine Prognose liefert, muss ich als "Actor" nicht mehr nachrechnen – das kann die KI besser. Meine Kompetenz liegt in der Einschätzung: Hat die KI für dieses Szenario überhaupt genügend Daten? Oder "halluziniert" sie mir gerade eine Sicherheit, die statistisch nicht haltbar ist? Ich rate Unternehmen dringend: Schulen Sie Ihre Leute nicht nur in der Bedienung der Software, sondern im tiefen Verständnis ihrer Limitationen.
2. Supervisory Control – Vom Piloten zum System-Manager Wir erleben einen massiven Shift von manuellen Routinen hin zu überwachenden Positionen. Das klingt im ersten Moment nach Entlastung, ist aber kognitiv oft anstrengender. Ein Controller verbucht nicht mehr; er überwacht ein System, das verbucht. Die entscheidende Fähigkeit hier ist Vigilanz (Daueraufmerksamkeit) und die Interventions-Kompetenz. Wenn das System scheitert – und das wird es in Randbereichen tun –, muss der Mensch blitzschnell vom passiven Monitoring in die aktive Problemlösung schalten ("Human-in-the-loop"). In meinen Modellen gewichte ich daher "Decision-Making unter Unsicherheit" heute deutlich höher als prozedurales Fachwissen.
3. Creative Problem Solving – Unser menschliches Monopol Dies ist, wenn Sie so wollen, Ihre Versicherung gegen die eigene Obsoleszenz. Egal wie fortschrittlich KI-Systeme werden, sie basieren primär auf historischen Daten. Sie schauen zurück. Wenn aber ein unvorhergesehenes Marktereignis eintritt (eine Pandemie, eine disruptive Regulierung), für das es keine Datenmuster gibt, sind Algorithmen blind. Hier schlägt die Stunde des Menschen: Die Fähigkeit, neuartige Lösungen (Novelty) zu entwickeln, indem man Wissen aus verschiedenen Domänen kreativ verknüpft. Das sind keine "Soft Skills" mehr – das sind die harten "Survival Skills" der operativen Arbeit.
Wohin geht die Reise?
Schauen Sie sich Ihre aktuellen Schulungspläne und Kompetenzmodelle an und legen Sie diese Grafik daneben. Wenn Sie feststellen, dass Sie immer noch primär auf die Abarbeitung von Standardprozessen (links) optimieren, dann optimieren Sie die Vergangenheit. Die strategische Aufgabe von HR ist es jetzt, die Belegschaft für die Schnittstellen-Kompetenz (rechts) fit zu machen: Wie führe ich eine Maschine, die intelligenter rechnet als ich, aber den Kontext der Welt nicht versteht?
Weiterführende Literatur & Quellen: Dieser Beitrag basiert auf aktueller Forschung zur kognitiven Arbeitsanalyse und Kompetenzmodellierung. Für Interessierte zum Weiterlesen:
Zur "Industriearchäologie" & neuen Modellen: Ficke, C., Brown, J., & Osman, M. C. (2025). Competency Modeling in a Digital Age: Redefining Skills and Capabilities for a Technologically Evolving Workforce. Training, Education, and Learning Sciences, 193, 95-101.
Zum deduktiven Modellierungs-Standard: Department of the Air Force. (2022). Air Force Handbook 36-2647: Competency Modeling. U.S. Government Printing Office.
Zu den theoretischen Grundlagen (CWA & SRK): Rasmussen, J. (1983). Skills, rules, and knowledge; signals, signs, and symbols, and other distinctions in human performance models. IEEE Transactions on Systems, Man, and Cybernetics. Vicente, K. J. (1999). Cognitive Work Analysis: Toward Safe, Productive, and Healthy Computer-Based Work. Lawrence Erlbaum Associates.