Kompetenzen statt Titel: Was Deutschland von Indiens „Skills-First“-Revolution lernen kann

Ein Blick über den nationalen Tellerrand lohnt sich oft, besonders wenn es um die Zukunft unserer Arbeitswelt geht. Manchmal findet man dort überraschende Ansätze für Herausforderungen, die uns hierzulande nur allzu bekannt vorkommen. Ein faszinierendes Beispiel liefert derzeit Indien. Dort unterzieht die boomende Elektronikindustrie (ESDM) ihren Talentaufbau einer radikalen Frischzellenkur – mit einer Strategie, die konsequent auf Fähigkeiten statt auf formale Titel setzt.

Die Dringlichkeit dahinter ist unübersehbar. In einer von Digitalisierung und Automatisierung getriebenen Welt veralten traditionelle, auf Abschlüssen basierende Rekrutierungsmodelle in rasantem Tempo. Sie sind oft zu starr, um mit der Dynamik des Marktes Schritt zu halten. Das Ergebnis ist ein paradoxer Zustand: Obwohl es an Talenten nicht mangelt, klagen Unternehmen über einen lähmenden Fachkräftemangel.

Genau hier setzt Indiens „Skills-First“-Revolution an. Anstatt jahrelang auf einen Hochschulabschluss hinzuarbeiten, werden junge Menschen in kurzen, hochspezialisierten und oft kostenlosen Kursen zu IoT-Hardware-Analysten, Drohnen-Technikern oder Embedded-Software-Entwicklern ausgebildet. Neue Lehrmethoden wie Virtual und Augmented Reality machen das Lernen greifbar und praxisnah. Das System setzt auf modulare, von der Industrie anerkannte Zertifikate – sogenannte Micro-Credentials –, die sich wie Bausteine zu einem individuellen Kompetenzprofil zusammensetzen lassen. Dieser Ansatz ermöglicht es Unternehmen, Talente nach ihrem tatsächlichen Potenzial einzustellen und sie für spezifische Kompetenzen weiterzubilden.

Wenn wir diese Entwicklung als Spiegel für unsere eigene Situation betrachten, werden schnell Parallelen deutlich. Auch Deutschland kämpft mit einem hartnäckigen Fachkräftemangel. Laut einer Erhebung des Kompetenzzentrums Fachkräftesicherung (KOFA) konnten im Frühjahr 2025 über 387.000 offene Stellen für qualifizierte Kräfte rechnerisch nicht besetzt werden. Gleichzeitig hinkt die digitale Transformation in unserem Bildungssystem dem internationalen Vergleich hinterher, wie Experten immer wieder anmerken.

Indiens pragmatischer Ansatz könnte hier als wertvoller Denkanstoß dienen. Was würde es für uns bedeuten, den Fokus stärker auf nachweisbare Fähigkeiten zu legen? Es könnte eine Chance sein, unser hochgeschätztes duales Ausbildungs- und Hochschulsystem flexibler zu gestalten. Denkbar wären agilere Bildungswege, die eine engere und dynamischere Zusammenarbeit zwischen Hochschulen und der Wirtschaft erfordern – eine Kooperation, die sich laut einer Umfrage des Stifterverbandes übrigens 93 Prozent der Hochschulen ohnehin stärker wünschen.

Ein solches System könnte auch die Tür zu lebenslangem Lernen weiter aufstoßen. Statt starrer, jahrelanger Studiengänge könnten modulare Zertifikate den kontinuierlichen Erwerb neuer Qualifikationen erleichtern. Das ist besonders relevant, wenn man bedenkt, dass die Weiterbildungsbeteiligung in Deutschland sozial noch immer ungleich verteilt ist: Menschen mit akademischen Abschlüssen bilden sich weitaus häufiger weiter als Geringqualifizierte. Ein leichter zugängliches, auf kleineren Einheiten basierendes System könnte hier Brücken bauen und die Anpassungsfähigkeit der gesamten Erwerbsbevölkerung steigern.

Natürlich lässt sich das indische Modell nicht eins zu eins übertragen. Die Skepsis gegenüber Micro-Credentials ist in der deutschen Bildungslandschaft noch spürbar, wo formale Abschlüsse einen hohen Stellenwert genießen. Doch die indische Initiative fordert uns auf, über unsere eigenen Strukturen nachzudenken. Sie zeigt, dass die Zukunft der Arbeit möglicherweise nicht mehr allein durch Zeugnisse, sondern durch ein Portfolio an dynamisch erworbenen Kompetenzen definiert wird. Vielleicht liegt genau hier eine der größten Chancen, unseren Status als Innovations- und Wirtschaftsstandort nachhaltig zu sichern.

Prof. Dr. Kai Reinhardt

Prof. Dr. Kai Reinhardt ist Professor für Organisation und Personalentwicklung an der HTW Berlin und Gründer von KYBERNET. Er forscht und berät seit über 20 Jahren zu Kompetenzmanagement, digitaler Transformation und der Gestaltung adaptiver Organisationen.

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