Der „AI-Literacy“-Irrtum: Warum wir technische Führungskräfte am falschen Ende zu KI trainieren
Wenn wir in Deutschland über Künstliche Intelligenz sprechen, verfallen wir oft in einen hektischen, fast panischen Aktionismus. Unternehmen rufen nach „AI Upskilling“, HR-Abteilungen kaufen generische „Prompt Engineering“-Kurse im Dutzend ein, und Vorstände fordern pauschal, dass nun jeder im Unternehmen „KI-fit“ sein müsse.
Doch dieser Gießkannen-Ansatz ist nicht nur ineffizient – er ist gefährlich. Er suggeriert, dass KI eine homogene Zusatzqualifikation sei, die man einfach über bestehende Rollen „drüberstreuen“ kann. Ein Blick auf die Grafik entlarvt diesen Irrtum sofort: Diese Darstellung ist kein theoretisches Konstrukt, sondern das destillierte Ergebnis eines meiner jüngsten Forschungsprojekte an der HTW Berlin. Wir haben die DNA technischer Führung im KI-Zeitalter empirisch dekonstruiert. Statt einer simplen Liste von „KI-Skills“ zeigt die Visualisierung ein komplexes Spannungsfeld:
Die Führungs-Archetypen der KI-basierten Führung
Wir sehen den „Technologischen Architekten“ (A1) im Norden, der tief in der Maschinenraum-Logik von ML-Pipelines steckt. Wir sehen den „Generalisten & Orchestrator“ (A2) im Süden, der als Bremse fungiert und Governance über Innovation stellt. Und wir sehen den massiven „Tension Arc“ (Spannungsbogen) dazwischen. Wer versucht, diese diametral gegensätzlichen Profile mit demselben „KI-Führerschein“ zu schulen, ignoriert die physikalischen Gesetze der Organisation.
In unserer Studie haben wir untersucht, was technische Leader – vom CTO im Start-up bis zum IT-Leiter im Mittelstand – wirklich können müssen. Die Ergebnisse einer umfassenden Analyse von Stellenprofilen und einer Befragung von knapp 100 Führungskräften sind eine schallende Ohrfeige für das klassische „Skill-Bucket“-Denken vieler Personalentwickler. Die Realität ist kein flaches Listen-Denken, sondern ein dreidimensionales Kompetenz-Ökosystem, wie die Grafik verdeutlicht.
Hier sind drei unbequeme Wahrheiten aus unserer Forschung, die wir diskutieren müssen, wenn wir über diese Map navigieren wollen.
1. Es gibt keine „KI-Kompetenz“ (und wir sollten aufhören, sie zu suchen)
Eines der vielleicht provokantesten, aber zugleich wertvollsten Ergebnisse unserer empirischen Untersuchung ist die Entmystifizierung der sogenannten „AI Literacy“. Die statistische Analyse unserer Daten (N=99 Führungskräfte) liefert einen Befund, der dem aktuellen Trend vieler HR-Akademien diametral entgegensteht:
In der gelebten Führungspraxis existiert „KI-Kompetenz“ nicht als isolierter, abgrenzbarer Faktor.
Während Bildungsanbieter und Institutionen wie die OECD „KI-Fähigkeiten“ oft als separates Modul definieren – ähnlich wie früher „EDV-Kenntnisse“ oder „Fremdsprachen“ –, zeigt die Realität in den Unternehmen eine völlig andere Struktur. KI-Kompetenzen bilden statistisch kein eigenes Cluster. Stattdessen „laden“ sie auf bestehende, fachliche Kompetenzdimensionen. Sie verschmelzen mit der Rolle. Was bedeutet das konkret? Wir beobachten eine kontextuelle Fusion. Ein Beispiel:
Wenn eine technische Führungskraft KI nutzt, geht es nicht um generisches „Prompting“. Es geht um Systemarchitektur und Produktentwicklung. Die KI wird zum Werkzeug, um Code effizienter zu skalieren oder neue Features zu bauen. Die Kompetenz ist hier untrennbar mit tiefem technischem Verständnis verknüpft.
Wenn dieselbe Technologie auf dem Schreibtisch eines CIO landet, ändert sich ihr Aggregatzustand. Hier ist KI fast deckungsgleich mit Governance, Sicherheit & Compliance. Die Kompetenz besteht darin, KI-Risiken zu bewerten, Datenflüsse zu regulieren und Rechtssicherheit zu schaffen.
Um den strategischen Fehler in der aktuellen Personalentwicklung zu verdeutlichen, hilft ein bildhafter Vergleich: Wir behandeln KI oft, als wäre sie eine neue Farbe im Malkasten unserer Mitarbeiter – ein weiteres Tool, das man bei Bedarf „dazu nimmt“. Die Studie zeigt jedoch: KI ist keine neue Farbe. Sie ist eine neue Leinwand. Sie verändert den Untergrund, auf dem alle anderen Kompetenzen stattfinden. Wer KI-Kurse isoliert vom fachlichen Kontext anbietet (z. B. „KI für alle“), produziert theoretisches Wissen ohne Anker in der operativen Realität. Das führt dazu, dass Mitarbeiter zwar wissen, wie ein LLM funktioniert, aber nicht, wie es ihre spezifischen Prozessprobleme löst.
Implikation für HR-Strategen: Wir müssen von einer Separationslogik (KI als Extrakurs) zu einer Integrationsperspektive wechseln. Das Ziel ist nicht, „KI-Experten“ zu züchten, sondern „KI-augmentierte Architekten“, „KI-gestützte Controller“ oder „KI-befähigte HR-Manager“. Die Schulung muss dort ansetzen, wo die KI den fachlichen Kernprozess verändert – und nicht auf einer abstrakten Meta-Ebene.
2. Das Ende des Elfenbeinturms: Warum der „Nur-Techie“ im KI-Zeitalter ausgedient hat
Ein weiteres, hartnäckiges Vorurteil, das unsere Daten pulverisiert haben, ist die klassische Arbeitsteilung des 20. Jahrhunderts: „Die Techniker kümmern sich um den Code und die Infrastruktur, das Management kümmert sich um die Vision und die Menschen.“ Diese Annahme ist nicht nur veraltet – sie ist im Kontext von KI fatal.
Unsere statistische Analyse förderte ein Ergebnis zutage, das wir in dieser Deutlichkeit nicht erwartet hatten. Wir haben die Kompetenzdimension „Transformationale und Strategische Führung“ (Dimension 2) untersucht – also die Fähigkeit, Visionen zu entwickeln, Change-Prozesse zu moderieren und Menschen emotional mitzunehmen. Die Erwartung der alten Schule wäre gewesen: Strategische Rollen (wie der CDO) bewerten dies hoch, technische Rollen (wie der Head of Engineering) bewerten dies niedrig. Die Realität sieht anders aus: Diese Dimension ist völlig rollenunabhängig. Egal, ob wir den tief im Maschinenraum arbeitenden „Technologischen Architekten“ (Archetyp 1) oder den marktnahen „Produkt-Visionär“ (Archetyp 4) befragten – die Bewertung dieser Kompetenz lag durchweg auf dem höchsten Niveau (Level 4 bis 5).
Was bedeutet das für Ihr Leadership-Modell? Es bedeutet, dass Strategie die neue Baseline ist – der Hygiene-Faktor für jede technische Führungskraft.
Warum ist das so? Weil die Einführung von KI – anders als ein Update von Windows oder die Migration in die Cloud – tief in die Identität der Mitarbeitenden eingreift. Ein Algorithmus, der Entscheidungsprozesse automatisiert oder kreative Arbeit übernimmt, löst Urängste aus: „Bin ich noch relevant?“, „Verstehe ich das noch?“, „Werde ich ersetzt?“ Ein technischer Leiter, der brillant in Python ist, aber dysfunktional in Empathie, wird dieses Projekt an die Wand fahren. Er wird die beste Technologie implementieren, die dann von niemandem genutzt wird, weil die kulturelle Abwehrreaktion („Organ rejection“) zu stark ist.
Unsere Studie zeigt auch: Ein Tech-Lead, der sich nur als Herr über Pipelines, GPUs und APIs definiert, agiert im KI-Zeitalter fahrlässig. Er muss zum Change-Manager werden. Er muss erklären können, warum der Copilot den Entwickler nicht abschafft, sondern augmentiert. Er muss die Brücke bauen zwischen technischer Machbarkeit und menschlicher Akzeptanz.
Wenn Sie also Ihren nächsten Head of AI oder CTO einstellen, prüfen Sie nicht nur den Tech-Stack. Prüfen Sie die „Change-Signatur“. Kann diese Person eine Narrative bauen, die Ängste nimmt? Versteht sie Technologie als sozio-technisches System? Wer KI als reines IT-Projekt begreift, hat schon verloren. Es ist ein Change-Projekt, das zufällig Technologie benutzt. Und dafür brauchen wir Techniker, die Strategen sind – keine Nerds im Elfenbeinturm.
3. Der fatale Gleichmacherei-Fehler: Warum wir Gaspedal und Bremse nicht im selben Kurs schulen dürfen
Die spannendste – und für viele Organisationen disruptivste – Erkenntnis unseres Forschungsprojekts ist die Identifikation von fünf distinkten Führungs-Archetypen. Bisher tendiert HR dazu, „Tech-Leadership“ als monolithischen Block zu behandeln. Wir schicken alle Führungskräfte mit technischer Verantwortung durch dieselben „Agile Mindset“-Workshops und dieselben „KI-Grundlagen“-Seminare. Unsere Daten zeigen: Damit sabotieren wir den Lernerfolg.
Das Spannungsfeld von Künstlicher Intelligenz, Führung, Innovation und Stabilität
Warum? Weil wir in unseren Organisationen Rollen haben, die diametral gegensätzliche Bedürfnisse und „Kompetenz-Signaturen“ aufweisen. Wir zwingen das Gaspedal und die Bremse in denselben Takt – und wundern uns dann, dass der Motor stottert. Die Konfliktlinie: Innovation vs. Immunsystem Unsere Analyse deckt signifikante Konfliktlinien auf, die wir nicht weg-coachen, sondern managen müssen:
Der Technologische Architekt (Archetyp 1) Dieser Typus ist der Motor der Skalierung. Seine KI-Orientierung ist maximal. Sein Fokus liegt auf Geschwindigkeit, Experimentierfreude und technischer Exzellenz (Dimension 1 & 3). Er muss wissen, wie man LLMs in Produkte gießt, bevor der Wettbewerber es tut.
Der Generalist & IT-Orchestrator (Archetyp 2) Dieser Typus sichert das Überleben. Seine Priorität ist die „License to Operate“ – Stabilität, Sicherheit, Verfügbarkeit. Er bewertet technologische Innovation (Dimension 1) signifikant niedriger als der Architekt , priorisiert dafür aber Governance und Infrastruktur (Dimension 4).
Wenn Sie den „Architekten“ in ein Seminar über Risiko-Minimierung zwingen, frustrieren Sie ihn. Wenn Sie den „Orchestrator“ drängen, „schneller zu scheitern“ (Fail Fast), gefährden Sie die Stabilität des Unternehmens. Beide Rollen sind vital, aber sie benötigen völlig unterschiedliche Nährlösungen. Noch deutlicher wird die Notwendigkeit zur Differenzierung beim Blick auf den KI-Produkt-Visionär. Unsere Daten zeigen hier ein faszinierendes Risikoprofil: Dieser Archetyp stellt „Time-to-Market“ radikal über Compliance. Seine Werte in der Dimension Governance & Sicherheit (D4) sind signifikant niedriger als die der anderen Rollen. Das ist kein Defizit, das ist seine Aufgabe: Er muss Marktchancen sehen, wo andere Bedenken haben. Aber: Er braucht ein völlig anderes Coaching (z. B. „Wie balanciere ich Risiko und Chance?“) als der IT-Leiter, den Sie nachts wecken, weil er das Unternehmen vor einem DSGVO-Verstoß durch KI-Halluzinationen schützen muss.
HR muss sich also vom Verwalter standardisierter Programme zum Architekten eines Führungs-Ökosystems wandeln. Hören Sie auf, von „den IT-Führungskräften“ zu sprechen. Identifizieren Sie, wer Architekt, wer Orchestrator und wer Visionär ist.
Differenzieren Sie die Curricula:
Geben Sie den Architekten (A1) Deep-Tech-Schulungen und Freiräume für Prototyping.
Geben Sie den Orchestratoren (A2) fortgeschrittene Szenario-Trainings für Cyber-Resilienz und KI-Regulierung.
Bringen Sie diese Gruppen nur dort zusammen, wo es um die gemeinsame strategische Basis geht (Dimension 2) – dort lernen sie voneinander. In den Fachthemen aber brauchen sie getrennte Bahnen.
Ein modernes Unternehmen braucht beides: Die wilde Energie des Architekten, um zu wachsen, und die besonnene Hand des Orchestrators, um nicht zu implodieren. Die Kunst von HR liegt darin, beide stärkenorientiert zu entwickeln, statt sie gegeneinander auszuspielen.
Fazit: Präzision statt Panik – Ein Plädoyer für moderne Skill-Architektur
Unsere Daten sind mehr als eine Bestandsaufnahme; sie sind ein Weckruf für das moderne Skill-Management. Sie zeigt eindrucksvoll: Wir scheitern in der digitalen Transformation nicht an der Technologie. Wir scheitern an veralteten Rollenbildern und pauschalen Kompetenzmodellen.
Solange wir KI als bloßes technisches Tool begreifen und nicht als Katalysator, der unsere Führungsrollen fundamental neu definiert, werden wir Milliarden in Trainings investieren, die verpuffen. Modernes Kompetenzmanagement darf nicht länger nach dem Gießkannenprinzip funktionieren („Ein bisschen KI für alle“). Es muss sich von der Separationslogik (KI als isoliertes Add-on) verabschieden und zur Integrationslogik wechseln. Das bedeutet: Skill-Profile müssen kontextualisiert werden. Wir müssen aufhören, generische Listen abzuarbeiten, und anfangen, rollenspezifische „Kompetenz-Signaturen“ zu designen.
Die Studie beweist auch: Wir müssen Führungskräfte nicht einfach pauschal „schlauer“ in KI machen. Die Aufgabe von HR ist es, sie zu befähigen, ihre spezifische Rolle in einem KI-augmentierten Gefüge wahrzunehmen. Wir brauchen das Gaspedal der Innovation (den Technologischen Architekten), der KI nutzt, um zu skalieren und zu experimentieren. Wir brauchen auch zwingend die Bremse der Governance (den IT-Orchestrator), der Sicherheit und Compliance gewährleistet. Beides ist vital. Aber beides ist grundverschieden. Ein strategisches Kompetenzmanagement muss diese Spannungsfelder aushalten und gezielt entwickeln, anstatt sie durch Einheits-Schulungen glattzubügeln.
Lassen Sie uns Kompetenzmanagement endlich so strategisch betreiben, wie es die Technologie erfordert. Das bedeutet den Übergang von der Personalverwaltung zur Skill-Architektur. Nutzen Sie die empirisch validierte Rollen-Kompetenz-Matrix, um Ihre Organisation zu kartografieren. Identifizieren Sie Ihre Archetypen. Und dann investieren Sie präzise: tiefes technisches Upskilling für die einen, robuste Governance-Schulungen für die anderen – und strategische Transformations-Kompetenz als das bindende Element für alle.